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Die Kunst, aus der Vergangenheit die Zukunft zu formen

Vor 70 Jahren lief der erste Liebherr-Kühlschrank vom Band. Damit erschloss Hans Liebherr nicht nur einen neuen Geschäftsbereich, sondern stellte einmal mehr sein untrügliches Gespür für zukunftsträchtige Märkte unter Beweis. Sein Mut, auch unbekannte Wege zu beschreiten, ist bis heute tief im Unternehmen verwurzelt. Zum Jubiläum hat Liebherr ein historisches Kapitel neu aufgeschlagen.

Die Zeichen der Zeit erkennen

Die richtige Idee zur richtigen Zeit umsetzen, Ziele mit unbeirrbarem Willen verfolgen und ein verlässlicher Instinkt für aussichtsreiche Branchen zählten zu den Erfolgsgeheimnissen von Hans Liebherr. Sie bildeten das Fundament für eine Vielzahl bahnbrechender Erfindungen, beginnend mit dem weltweit ersten mobilen Turmdrehkran, der 1949 die Geburtsstunde des Unternehmens markierte und den Wiederaufbau des im Krieg zerstörten Deutschlands beschleunigte. Gelegentlich waren es aber auch persönliche Kontakte, die Hans Liebherr Impulse für neue Geschäftsfelder gaben. 1953 erfuhr er durch den Filialleiter seiner Hausbank von einer bankrotten Kühlschrankfabrik, die zum Verkauf stand. Während der frostige Vorratsschrank in den USA bereits ab den 30er-Jahren zur Standardausstattung jeder Küche gehörte, galt er in Deutschland noch lange als Luxusartikel. Er war teuer, sperrig und auf verlässliche Stromanschlüsse angewiesen – lediglich jeder zehnte Haushalt besaß einen eigenen Kühlschrank. Doch der wirtschaftliche Aufschwung verlieh der Gesellschaft in den 50er-Jahren nach und nach finanziellen Rückenwind: Während die Lebenshaltungskosten stagnierten, stieg die Kaufkraft und der wachsende Wohlstand bildete die Maßstäbe für eine neue Lebensqualität. Reisen, Autos, Möbel oder Elektrogeräte wurden zu erschwinglichen Konsumgütern.

Kühl kalkuliert

Nach einer gründlichen Analyse erkannte Hans Liebherr sofort das Potenzial, die erhebliche Marktlücke bei Haushaltskühlgeräten zu schließen. Bereits aus der Vergangenheit wusste er, dass das Erkennen von Marktbedürfnissen und Trends entscheidend für den Erfolg ist. Dennoch lehnte Hans Liebherr den Kauf der Fabrik ab und errichtete stattdessen eine eigene Produktionsstätte im süddeutschen Ochsenhausen – eine langfristige Investition in die Zukunft. Dadurch konnte er den Fertigungsprozess und die Qualität der Produkte von Beginn an kontrollieren, flexibel auf Marktveränderungen reagieren und innovative Technologien selbst entwickeln und implementieren. 1954 rollten in Ochsenhausen die ersten Kühlgeräte vom Band.

Der Einzug des Kühlschranks in die privaten Haushalte nahm in den folgenden Jahren weiter zu und verbesserte die Lebensqualität ihrer Besitzer erheblich. Denn mit dem revolutionären Alltagshelfer veränderte sich nicht nur das Einkaufsverhalten, sondern die gesamte Ernährungskultur, die dadurch immer variantenreicher und gesünder wurde. Die Eröffnung völlig neuer Möglichkeiten verliehen dem Besitz eines eigenen Kühlschranks Attraktivität und ließen ihn zu einem Symbol von Prosperität und Fortschrittlichkeit werden. Die Entscheidung von Hans Liebherr, auf die eigene Entwicklung und Fertigung zu setzen, trug schon bald Früchte: 1958, nur drei Jahre nach Start der Serienproduktion, verließ das 100.000. Kühlgerät das Werk in Ochsenhausen.

Der Beginn einer neuen Ära

Die 60er-Jahre läuteten eine Ära des dynamischen Wandels ein. Während legendäre Bands Generationen prägten, der Babyboom seinen Höhepunkt erreichte und die Mode mit Farben und psychedelischen Mustern experimentierte, brachte das Jahrzehnt auch eine ganze Reihe bedeutender technischer Errungenschaften hervor. In den ersten Jahren setzte sich das Wirtschaftswunder fort und in dieser Blütezeit der Konsumkultur brach auch für die Werbung eine revolutionäre Phase an, die häufig den Zeitgeist und Fortschritt der Gesellschaft widerspiegelte. Die Werbebranche wurde kreativer, mutiger und vielfältiger: Bunte, kontrastreiche Designs, ikonische Kampagnen und aussagekräftige Slogans setzten neue Maßstäbe.

Bis in die frühen 60er-Jahre war etwa die Hälfte der deutschen Haushalte mit einem Kühlschrank ausgestattet – die restlichen 50 % bedeutete Luft nach oben für das Geschäft von Hans Liebherr, der seit 1961 auch Gefriergeräte produzierte. Der zunehmende Wettbewerb erforderte es, sich von der Konkurrenz abzuheben und die Marke zu stärken. Um den Verkauf anzukurbeln, ließ sich Liebherr eine ganz besondere Marketingstrategie einfallen: Auf vier Rädern sollte von nun an die Werbetrommel gerührt werden.

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Kult auf Rädern: Ein Kleintransporter erobert die Bundesrepublik

Dafür verwandelte Liebherr unterschiedliche Fahrzeuge mit viel Aufwand in „fahrende Schaufenster“, darunter den Kleintransporter L 319 von Mercedes-Benz. Die von 1955-1968 produzierte Baureihe war mit kompakten Maßen, robuster Technik und hoher Nutzlast genau auf die Bedürfnisse der Wirtschaftswunderjahre zugeschnitten und vor allem für Handel, Handwerk und Gewerbe ideal geeignet. Von Mercedes-Benz selbst als „motorisierter Werbeträger“ mit „hervorragenden großzügigen Werbeflächen“ angepriesen, schien der L 319 geradezu prädestiniert für das Vorhaben von Liebherr.

Quer durch die Bundesrepublik präsentierte der Kleintransporter jahrelang die neuesten Kühl- und Gefriergeräte, perfekt in Szene gesetzt durch spezielle Podeste auf der Ladefläche. Um beste Sicht auf die Modelle zu ermöglichen, wurden große Scheiben an den Seiten und am Heck des umfunktionierten Fahrzeugs eingesetzt. Vertriebspartner konnten den L 319 und dessen Pendants beim Vertrieb in Ochsenhausen mieten, um ihren Kunden direkt vor Ort die aktuellsten Produkte vorzustellen – denn Elektrofachmärkte mit großen Ausstellungsflächen gab es damals noch nicht. Den Kunden bot diese innovative Marketingstrategie ein einzigartiges Erlebnis, sie konnten die Produkte aus nächster Nähe genau unter die Lupe nehmen und sich von ihrer Qualität überzeugen. Ein Konzept, mit dem Liebherr den Nerv der Zeit traf und seine Markenpräsenz durch Aufmerksamkeit erhöhte. Die Kombination aus dem markanten Mercedes-Benz Design und den speziellen Anpassungen für Liebherr machten den L 319 zu einem echten Blickfang auf den Straßen. Auf seinen Reisen als fahrendes Schaufenster gewann das Fahrzeug Bekanntheit für Liebherr als Hersteller von Kühl- und Gefriergeräten und sammelte dabei Sympathien im ganzen Land. Auch nach dem Ende seiner Einsatzzeit ist der L 319 für Liebherr ein Kultobjekt geblieben. Er steht für die Mitarbeitenden im Produktsegment Kühl- und Gefriergeräte als identifikationsstiftendes Symbol ihrer Historie.

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Alte Ideen, frischer Wind

Mehr als fünf Jahrzehnte nach der letzten Tour des L 319 hauchte Liebherr der Tradition des fahrenden Schaufensters neues Leben ein. „Think big“ lautete dabei die Devise, denn der Kleintransporter aus den 60er-Jahren wich einem 17 Meter langen und knapp 35 Tonnen schweren Mercedes-Benz-Truck der Superlative, der dank ausfahrbarer Seitenteile eine stolze Ausstellungsfläche von 65 Quadratmetern umfasst. Von Ochsenhausen aus startete der Truck im Februar 2023 erstmals zu einer 99 Tage andauernden Roadshow durch 36 Städte in Österreich, Slowenien, Ungarn, Tschechien, der Slowakei und Polen, um vor allem den direkten Austausch mit dem Fachhandel zu ermöglichen. 7.400 Kilometer legte der mobile Showroom auf seiner Reise zurück und präsentierte in seinem Inneren 17 innovative Kühl- und Gefriergeräte für den privaten und gewerblichen Gebrauch.

Mit den Produktneuheiten direkt zu den Kunden fahren und sie hautnah dafür zu begeistern: Die Idee kommt gut an, damals wie heute. So gut, dass sie 2024 in zweifacher Ausführung fortgesetzt wurde: Die „Road to Freshness“ führte einmal durch die pulsierenden Städte Frankreichs und ein weiteres Mal durch die malerischen Landschaften der Schweiz. Auf seinen zwei Touren besuchte der Truck insgesamt 30 Städte.

Back to the roots: Rückkehr einer Ikone

Liebherr hat mit dem mobilen Showroom ein Erfolgsmodell aus den 60er-Jahren in die Gegenwart geholt und ein perfektes Zusammenspiel aus Tradition und Innovation geschaffen. Wie eng Vergangenheit und Zukunft miteinander verbunden sind, zeigt auch die Erfolgsgeschichte des Unternehmens. 75 Jahre Liebherr und 70 Jahre Kühl- und Gefriergeräte bieten eine gute Gelegenheit, um einen Blick zurück auf die Wurzeln zu werfen – und inspirieren dazu, Veränderungen auch künftig mit dem nötigen Weitblick zu begegnen und das Erbe von Hans Liebherr in seinem Sinne fortzuführen: Noch heute prägt sein Pioniergeist die Identität der Firmengruppe und inspiriert Mitarbeitende rund um den Globus dazu, ihre Ideen mit Leidenschaft in die Tat umzusetzen. Und zum Jubiläum realisierte Liebherr eine ganz besondere Idee: Den originalgetreuen Nachbau des historischen L 319, der ein Stückchen Geschichte wieder aufleben lässt und eine Hommage an das ikonische Gefährt ist.

Durchgeführt hat das aufwändige Projekt die Werner Dreyer Kfz GmbH in Alfeld (Deutschland), eine Mercedes-Benz Werkstatt mit fünf Jahrzehnten Erfahrung, die seit 1994 auf die Restauration von Oldtimer-Trucks spezialisiert ist. Monatelang hat das hochqualifizierte Dreyer-Team mit viel Hingabe einen L 319-Veteranen generalüberholt und dabei montiert, geschweißt und lackiert, Einzelteile instandgesetzt, getauscht oder nachgebaut, die Technik überholt und die Elektrik nachgerüstet. Erstmals mit im Boot war auch ein auf die Restaurierung von Antiquitäten spezialisierter Kunsttischler, der sich von den Rahmen der neuen Fensterausschnitte über den gesamten Innenraum bis hin zu den originalgetreu nachgebildeten Türdichtungen der Kühl- und Gefriergeräte kümmerte. Unzählige Arbeitsstunden sind in den Nachbau geflossen, bis der L 319 wie ein Phönix aus der Asche in neuem Glanz erstrahlte und erstmals auf der 100. IFA (Internationale Funkausstellung) im September 2024 in Berlin (Deutschland) präsentiert werden konnte.

Auch Michael Kunz, Manager Global Indirect Material bei der Liebherr-Hausgeräte Ochsenhausen GmbH (Deutschland), hat sich mit viel Herzblut in das Projekt eingebracht. Eine Tischkühlplatte von Liebherr – ein Geschenk seiner Schwiegermutter – hat vor vielen Jahren seine Leidenschaft für das Sammeln von Memorabilien und historischen Kühlgeräten von Liebherr entfacht. Im Laufe der Zeit ist seine Sammlung gewachsen, genauso wie seine Faszination für den L 319. Seit langem schon hatte er den Wunsch gehegt, das Prunkstück wieder auf die Straßen zu bringen. Wie sich seine Hoffnung erfüllte und weitere spannende Einblicke rund um den Nachbau erzählt Michael Kunz im Interview.

Interview mit Michael Kunz

Manager Global Indirect Material bei der Liebherr-Hausgeräte Ochsenhausen GmbH (Deutschland)

Auch Michael Kunz, Manager Global Indirect Material bei der Liebherr-Hausgeräte Ochsenhausen GmbH (Deutschland), hat sich mit viel Herzblut in das Projekt eingebracht. Eine Tischkühlplatte von Liebherr – ein Geschenk seiner Schwiegermutter – hat vor vielen Jahren seine Leidenschaft für das Sammeln von Memorabilien und historischen Kühlgeräten von Liebherr entfacht. Im Laufe der Zeit ist seine Sammlung gewachsen, genauso wie seine Faszination für den L 319. Seit langem schon hatte er den Wunsch gehegt, das Prunkstück wieder auf die Straßen zu bringen. Wie sich seine Hoffnung erfüllte und weitere spannende Einblicke rund um den Nachbau erzählt Michael Kunz im Interview.

Spannende Zahlen und Fakten

Im ersten Jahr der Serienproduktion fertigte Liebherr insgesamt 4.495 Kühlgeräte. 1960 war der Produktionsprozess in Ochsenhausen bereits so ausgereift, dass alle 40 Sekunden ein versandfertiger Kühlschrank vom Band laufen und für den Abtransport bereitgestellt werden konnte. Heute betreibt Liebherr insgesamt fünf Produktionsstandorte in Europa und Asien und fertigte bis 2023 mehr als 77.000.000 Kühl- und Gefriergeräte.

Im Herbst 2019 gelingt dem ehemaligen Liebherr-Mitarbeiter Josef Niedermaier ein Glücksfund: der Kühlschrank KT115/88. Für 20 Euro kauft Niedermaier das alte Stück einem Entrümpelungsbetrieb ab und testet es zuhause. An den Strom angeschlossen, surrt der Kompressor bald gleichmäßig, das Licht geht an und die Kühlung beginnt. Wie alt das Gerät wirklich ist, kann Niedermaier mit einem ehemaligen Kältemittel-Spezialisten bei Liebherr klären. Dieser ermittelt im Kühlschrank das Kältemittel F12, das nur für einen sehr kurzen Zeitraum in der Produktion in Ochsenhausen verwendet wurde. Der Kühlschrank stammt aus dem Jahr 1955 und ist damit das älteste Kühlgerät von Liebherr – und nach all den Jahren immer noch voll funktionsfähig.

1950 befand sich die noch junge Bundesrepublik in einer prekären Lage, gleichzeitig markiert das Jahr den Ausgangspunkt des wirtschaftlichen Aufschwungs, der später für Vollbeschäftigung und Wohlstand sorgte. Innerhalb eines Jahrzehnts hat sich der durchschnittliche Bruttojahreslohn nahezu verdoppelt und lag 1962 bei umgerechnet ca. 7.400 DM1 . Zum Vergleich: Eine große Kühl- und Gefrierkombination vom Typ KS 212 aus dem Liebherr-Kühlschrankprogramm 1962 kostete etwa 650 DM, die Gemüseschalen 30 DM zusätzlich. Das zeigt beispielhaft, warum Kühlschränke – und auch viele andere Haushaltsgüter – lange als Luxus galten und erst mit steigender Kaufkraft für den Großteil der Bevölkerung erschwinglich waren. Übrigens: Der KS 212 war eines der Ausstellungsstücke, mit denen der L 319 in den 60ern durch die Lande zog.

1 https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Verdienste/Verdienste-Branche-Berufe/Tabellen/liste-bruttomonatsverdienste.html#134756

Das fahrende Schaufenster hat im Laufe der Zeit einen kleinen Bruder bekommen: Bereits 2006 konnten Sammler, Liebherr- und Retro-Fans den ikonischen L 319 im Maßstab 1:43 im Liebherr-Shop erwerben und dort ist das beliebte Modell im Jubiläumsjahr 2024 erneut erhältlich. Während für das originale Fahrzeug in den 60ern eine schwarze Lackierung und ein gelbes Logo charakteristisch waren, ist das Modell in sattem Blau eingefärbt – die primäre Markenfarbe des Produktsegments Kühl- und Gefriergeräte seit den 70er-Jahren.

Den Grundstein für moderne Kühlgeräte legte der deutsche Ingenieur und Wissenschaftler Carl von Linde mit seinen bahnbrechenden Arbeiten im Bereich der Kältetechnik und Gasverflüssigung. Er entwickelte eine Kältemaschine, die auf Basis von Ammoniak künstliches Eis erzeugen konnte und damit das Brauen von Bier auch im Sommer ermöglichte. Sechs Jahre lang tüftelte der Pionier und nahm immer wieder Verbesserungen an seinen Prototypen vor, bis die erste Kältemaschine 1877 an die Dreher’sche Brauerei in Triest (Italien) ausgeliefert und nach weiteren konstruktiven Optimierungen zu einem Verkaufsschlager der Branche in Europa wurde. Schließlich revolutionierte von Linde die gesamte Lebensmittelindustrie mit seiner innovativen Kältetechnik und auch für weitere Industrien und Produktionsprozesse waren seine Arbeiten einflussreich und unverzichtbar, im Bereich der Gasverflüssigung trugen sie etwa zur Entwicklung der Kryotechnik bei.

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