Mobil- und Raupenkrane

6 Minuten | Magazin 01/2020

Der Ur-Raupenkran von Liebherr

Am Anfang jeder Produktlinie stehen Mut, Schaffensgeist, Zuversicht – und eine konkrete Idee. Die Idee der Raupenkrane ist mittlerweile über 40 Jahre alt.

Von Anfang an stark

Die Firmengruppe Liebherr steht für eine breit gefächerte Palette an anspruchsvollen Produkten und Leistungen. Den Grundstein für dieses Erfolgskonzept legte schon Firmengründer Hans Liebherr, der frühzeitig mit der Diversifizierung seines Unternehmens begann.

Das größte amerikanische Energieerzeugungs-Unternehmen Tennessee Valley Authority (TVA) war damals auf der Suche nach zwei Raupenkranen für den Bau von Atomkraftwerken. Das noch junge Liebherr-Werk in Ehingen hatte Raupenkrane noch nicht im Produktprogramm. Das Interesse der beiden Unternehmen an einer Zusammenarbeit war jedoch groß. Rudolf Becker, der damalige Geschäftsführer in Ehingen, ließ es sich nicht nehmen, persönlich in die USA zu reisen. Mit großem Engagement und Fachwissen überzeugte er die TVA, Raupenkrane bei Liebherr zu kaufen, obwohl es diese noch gar nicht gab! Seine Vision: Er wollte ein neues Raupenfahrwerk entwickeln und den Oberwagen des vorhandenen Gittermast-Mobilkrans LG 1300 modifizieren und darauf aufbauen.

1977 auf dem Testgelände bei Liebherr in Ehingen: LR 1300 mit und ohne Derricksystem.

Die Ingenieure bei Liebherr setzten sich ans Reißbrett, tüftelten und entwickelten den LR 1300 V – gewissermaßen der Ur-Raupenkran bei Liebherr. Liebherr Ehingen hat von dem LR 1300 V insgesamt genau zwei Exemplare gefertigt und beide 1978 an die TVA geliefert.

Der LR 1300 V ist in dreierlei Hinsicht eine Besonderheit: Unser erster Raupenkran. Der stärkste Raupenkran zur damaligen Zeit. Und der erste Liebherr-Kran aus Ehingen, der in die Vereinigten Staaten von Amerika verkauft wurde!

Im Zuge des 50-jährigen Jubiläums von Liebherr in den USA haben wir uns gefragt, wo diese besonderen Oldtimer denn mittlerweile stecken. Und siehe da: Wir haben Big Al gefunden.

damalsheute

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Aber von Anfang an. Der LR 1300 V war seinerzeit ein top Raupenkran. Liebherr konstruierte den Kraftprotz speziell für den Bau von Atomkraftwerken, wobei das V für die verstärkte Version der Standardausführung LR 1300 stand: Zusätzlich zu den vorhandenen 105 Tonnen Oberwagenballast wurde der LR 1300 V nun mit 950 Tonnen Derrickballast auf einem Schienen-Ballastwagen mit einem 31,5 Meter Derrickmast ausgestattet. Damit wurde das Potenzial des Krans voll genutzt: Die maximale Tragkraft steigerte sich von 300 Tonnen auf 585 Tonnen. In dieser Konfiguration nutzte die TVA die beiden Großkrane für Bau- und Instandhaltungsarbeiten über längere Zeit.

Nach einigen Jahren im Dienst der TVA übernahm 1987 schließlich Barnhart Crane & Rigging einen der beiden Krane. Paul Reynolds, Niederlassungsleiter bei Barnhart, erinnert sich stirnrunzelnd: „Der Zustand des Krans war schlecht. Wir haben über mehrere Monate hinweg richtig viel Arbeit reingesteckt. Nagetiere haben die elektrischen Anlagen schwer beschädigt, weshalb wir sie komplett tauschen mussten. Am Ende stand er wieder da wie eine Eins!“ Der Kranbetreiber bezeichnete den Schwerlastkran als LR 1700 und setzte ihn für die Demontage eines Atomkraftwerks in Tennessee ein. Anschließend arbeitete der Liebherr-Kran noch auf dem firmeneigenen Ausrüstungslager, bis er mangels Arbeitsaufträgen nach China verkauft wurde. Hier verlaufen sich die Spuren im Sand.

Lost and found: Big Al

Die Geschichte von Paul Reynolds ist allerdings noch nicht zu Ende! Es war im Jahr 1994, als das Unternehmen TVA den zweiten LR 1300 V dem US-Bundesstaat Mississippi vermachte. Mississippi wiederum verschenkte den Kran an das Schiffsreparaturunternehmen Moss Marine. Paul Reynolds erzählt: „Moss Marine beauftragte uns, den LR 1300 V abzubauen und zum Werftgelände von Moss Marine zu transportieren. Dort angekommen, haben wir ihn wieder aufgerüstet und einsatzbereit gemacht.“ Gute zehn Jahre später, das Ur-Getüm war mittlerweile schon 27 Jahre alt, bot Moss Marine der Firma Barnhart den LR 1300 V zum Kauf an. „Wir sind stolz, im Jahr 2005 dieses lieb gewordene Einzelstück gekauft und mit viel Aufwand wieder aufgepäppelt zu haben. Unsere Ingenieure haben das Hydrauliksystem repariert, die Kransteuerung komplett überholt, alle Relais und Platinen getauscht und mit moderner SPS-Steuerung ersetzt“, berichtet Paul Reynolds. Der bei Barnhart als LR 1700 bezeichnete Kran vollführte schließlich einige imposante Schwerlasthübe im ganzen Land. Leider waren die Mobilitätskosten des in die Jahre gekommenen Krans verhältnismäßig hoch.

Doch wie ein Chamäleon passt sich dieses Stück Krangeschichte an neue Bedingungen an. Seit 2009 thront der LR 1300 V / LR 1700 auf einer Barge im Wasser des Tiefseehafens Port of Mobile in Alabama. Sie wurde so modifiziert, dass der Derrickausleger direkt auf ihr Deck abgespannt werden konnte. Der schwimmende Kran wird liebevoll als „Big Al“ bezeichnet. Al steht sowohl für den Bundesstaat Alabama als auch für Alan Barnhart. Er ist Präsident des Unternehmens Barnhart Crane & Rigging Co.

LR 1300
• max. Traglast: 300 t am 21 m Hauptmast bei 6,5 m Ausladung
• Lastmoment: 2.057 mt
• 105 t Oberwagenballast

LR 1300 V
• max. Traglast: 585 t am 31,5 m Hauptmast bei 13 m Ausladung
• Länge Derrickmast: 31,5 m
• Lastmoment: 10.500 mt
• 105 t Oberwagenballast und 950 t Derrickballast auf Schienen-Ballastwagen

Big Al reist nun schon seit rund zehn Jahren in den Gewässern von der Golfküste bis hinauf nach Chicago und übernimmt unterschiedlichste Hebearbeiten bis 400 Tonnen. Ein Großteil sind Verladearbeiten von Schiffsgütern auf Barges, Zugwagons oder Schwertransportfahrzeuge. Big Al ist zudem regelmäßig bei Arbeiten an Schleusentoren, Brücken oder Kaianlagen im Einsatz. Mit mehr als 42 Jahren auf dem Buckel arbeitet Big Al zuverlässig und stark wie eh und je.

Dieser Artikel erschien im UpLoad Magazin 01 | 2020.

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