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Im Kreisverkehr zum Universum

In Darmstadt entsteht am GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung eine der größten Forschungseinrichtungen zur Entwicklung des Universums, vom Urknall bis heute: FAIR. Herzstück der Anlage für die Forschung mit Antiprotonen und Ionen ist ein 1,1 Kilometer langer Teilchenbeschleuniger. Ein Bauwerk mit kosmischen Dimensionen.

Von Baustellen und dem Big Bang

Mit dem Universum, dem Entstehen der Materie, den Sternen und den Voraussetzungen allen Seins beschäftigten sich weltweit ganze Heerscharen von Wissenschaftlern, Philosophen und Ingenieuren. Ein Zentrum der Universumserkundung liegt in Darmstadt: das GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung. Ein echter Bigshot in Wissenschaft und Forschung. Denn GSI betreibt eine große, weltweit einmalige Beschleunigeranlage für Ionen. Zu den bekanntesten Ergebnissen zählen die Entdeckung neuer chemischer Elemente sowie die Entwicklung einer neuen Krebstherapie.

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Das Universum im Labor

Und genau dort bei GSI in Darmstadt entsteht zurzeit eines der größten Forschungsvorhaben weltweit: das internationale Beschleunigerzentrum FAIR - Facility for Antiproton and Ion Research in Europe. Neun Länder (Deutschland, Finnland, Frankreich, Indien, Polen, Rumänien, Russland, Schweden und Slowenien) haben dazu 2010 einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen und investieren nun bis zur Inbetriebnahme mehr als drei Milliarden Euro in das Projekt. Große Erwartungen setzen sie dabei in das Herzstück der Anlage: den neuen Ringbeschleuniger SIS100, der die bereits existierenden Beschleunigeranlagen ergänzen soll. Mithilfe des geplanten Teilchenbeschleunigers kann Materie extrem hohen Temperaturen, Drücken oder Dichten ausgesetzt werden, wie sie in großen Planeten, Sternen und bei Sternexplosionen existieren. Dazu „schössen“ die Wissenschaftler Teilchen auf kleine Materialproben, erklärt Jörg Blaurock, der Technische Geschäftsführer von GSI und FAIR. Im winzigen Aufprallpunkt entsteht für einen kurzen Moment kosmische Materie im Labor. Mehrere Tausend Forschende aus aller Welt werden die Anlage nutzen, um neue Erkenntnisse über den Aufbau der Materie und die Entwicklung des Universums zu gewinnen – vom Urknall bis heute.

Ionenbeschleunigung fast in Lichtgeschwindigkeit

„Der SIS100 verläuft in einem unterirdischen Tunnel, dessen Sohle bis zu 17 Meter unter der Erde liegt“ beschreibt Blaurock den neuen Ringbeschleuniger. Er hat einen Umfang von 1.100 Metern und kann Ionen aller natürlichen Elemente des Periodensystems bis auf 99 Prozent der Lichtgeschwindigkeit beschleunigen“, ergänzt er. Die Magnete, die die Ionen dabei auf ihrer Bahn halten, sind supraleitend und mit flüssigem Helium auf -269°C gekühlt. „Ein technisches Meisterwerk.“ Dementsprechend sind auch die Gebäude, in denen die Anlagen untergebracht werden, eine große Herausforderung in der baulichen Umsetzung.

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Hier kommen die Experten von Liebherr Tower Crane Solutions ins Spiel. Eric Konijn ist als Projektingenieur immer dann gefragt, wenn an einer Baustelle außergewöhnliche Lösungen gesucht werden. Zusammen mit dem beauftragten Bauunternehmen Porr Deutschland und dem Schwerlast-Logistikunternehmen Wasel entwickelte der Niederländer ein Krankonzept für eine optimale Versorgung der kreisförmigen Tunnelbaustelle. Viele Turmdrehkrane sollten dazu gleichzeitig im Einsatz sein, sich bei der Arbeit nicht gegenseitig im Wege stehen und jederzeit die angrenzenden Baumwipfel überragen, um 360-Grad-Schwenks zu ermöglichen. Um die erforderliche Flexibilität zu erreichen, plante Konijn im Tunnelaushub eine Schienenanlage. „Das bei der Tunnelbaustelle öfters erforderliche Umsetzen der Krane ist normalerweise sehr aufwendig. Die Schienen eröffneten dem Kranverbund eine große Beweglichkeit ohne das Auf- und Abbauten eingeplant werden mussten. Das hat sich dann bei den umfangreichen Betonierarbeiten sehr schnell bewährt.“

Ein besonderer Fokus liegt bei den Planern von Liebherr Tower Crane Solutions immer auf der Sicherheit. „Im Miteinander der Krane durfte es nicht zu Kollisionen kommen. Zudem musste die Beweglichkeit auf Schienen zugleich mit den sehr hohen statischen Anforderungen, insbesondere im Sturmfall, zusammengeführt werden“, erklärt Konijn. Bei einer Tunneltiefe von über 17 Metern sollten die Krane mit jeweils 100 Tonnen Ballast auf dem Turmfuß eine Höhe von 40 bis 60 Metern erreichen, um einander oberhalb der angrenzenden Bäume mit ihren Auslegern überdrehen zu können.

Knifflig ist besonders reizvoll

„Das war eine ganz schön knifflige Aufgabe“, so der gelernte Maschinenbauingenieur, der sich in seiner Freizeit sehr gerne Baustellen anschaut und mit Kranmodellbau beschäftigt. „Es gefällt mir, wenn am Bau Kreativität und hohe Ingenieurskunst ins Spiel kommen.“ Und beides war in Darmstadt beim FAIR-Projekt in vieler Hinsicht gefragt. Nicht zuletzt auch, weil die Zeit für die Kraneinsatzplanung denkbar knapp bemessen war. „Zwischen der ersten Anfrage bis zum Start lagen nur drei Monate“, betont Konijn. Zum ersten Mal habe er zum Versetzen und Orchestrieren der Liebherr-Krane eine Gleisanlage eingesetzt. „Das war für alle Beteiligten in vieler Hinsicht Neuland, hat sich aber 100 Prozent bewährt.“

Eric Konijn hat seinen Arbeitsplatz mittlerweile von Biberach nach Singapur verlegt und verfolgt von dort aufmerksam die Fortschritte auf der Baustelle in Darmstadt. Die Krane haben längst ganze Zuarbeit geleistet. „Insgesamt werden mehr als 65.000 Tonnen Bewehrungsstahl und 600.000 Kubikmeter Beton in der FAIR Anlage verarbeitet“, berichtet Jörg Blaurock. Zwei Millionen Kubikmeter Erde sind dazu hin und her bewegt worden. „Alles ist mega bei FAIR“, sagt Blaurock. „Und alles muss dabei in den laufenden wissenschaftlichen Betrieb integriert werden.“ Denn in der bestehenden GSI-Anlage läuft das Schwerionen-Forschungsprogramm schließlich weiter auf Hochtouren.

Stillstand ist keine Option

Während die Experimente zum tieferen Verständnis des Universums und der Materie weiterlaufen, wachsen auf dem 150.000 Quadratmeter großen Grundstück immer mehr von den insgesamt 25 neuen Gebäude aus dem Boden. „Das ist einerseits faszinierend mitzuerleben. Andererseits setzt der laufende Forschungsbetrieb allen Baumaßnahmen auch ein sehr enges Korsett“, sagt Blaurock. Die eigens für das hochkomplexe Mega-Bauprojekt entwickelte integrierte Bauablaufplanung bewähre sich dabei jeden Tag aufs Neue. Unter anderem deshalb, da der Hoch-, Tief- und Ingenieurbau genauso wie die Beschleunigerentwicklung und die wissenschaftlichen Experimente eng aufeinander abgestimmt sind. „Das Ziel, die Menschheit dem Universum, den Planeten, den Sternen und Sternexplosionen sowie dem Ursprung aller kosmischen Materie ein Stückchen näher zu bringen, gerät immer mehr in Sichtweite. Eine geniale Forschungseinrichtung für die Einsteins von heute, morgen und übermorgen!“

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