Seitliche Auslegerkrümmung durch Temperaturunterschiede

Wenn sich der Ausleger aber seitlich nach links oder rechts neigt, ist das ein beunruhigendes Bild und die Frage kommt auf: Ist der Ausleger samt Kran wirklich sicher und stabil? Joachim Henkel, ein bekanntes Gesicht als Leiter der Abteilung Konstruktion und Entwicklung Statik, klärt auf und beruhigt die besorgten Gemüter.

LTM 1300-6.3, mit 90 Meter Ausleger: Seitliche Auslegerkrümmung infolge Sonneneinstrahlung und angehängter Maximallast.
LTM 1300-6.3, mit 90 Meter Ausleger: Seitliche Auslegerkrümmung infolge Sonneneinstrahlung und angehängter Maximallast.

Die Krux mit dem Stahl

Dazu ist zunächst ein Blick in die Materialkunde notwendig: Im Mobilkranbau spielt ein möglichst großes Verhältnis von Tragkraft zu Eigengewicht eine entscheidende Rolle für die Wettbewerbsfähigkeit des Produkts. Der Einsatz von höchstfesten schweißbaren Feinkornbaustählen ist der Schlüssel zum Tor des Leichtbaus. Im Vergleich zu dem im konstruktiven Ingenieurbau häufig verwendeten Baustahl S355 bieten die im Mobilkranbau eingesetzten höchstfesten Feinkornbaustähle eine um bis zu Faktor 3 höhere Belastbarkeit.

Aber wo Sonne ist, gibt es auch Schatten: Aufgrund der möglichen Ausnutzung der hohen Festigkeiten der verwendeten Stähle, steigt die elastische Verformung der Tragstruktur des Krans gegenüber einem S355 ebenfalls um den Faktor 3 an. Besonders eindrucksvoll zeigt sich die elastische Verformung an einem Teleskopausleger unter Last. Je nach Winkelstellung und Ausfahrlänge des Teleskopauslegers ist diese Vorformung, sowohl in Richtung der Ausladung als auch lateral, also seitlich zum Ausleger, mehr oder weniger stark ausgeprägt.

Mit der elastischen Verformung in Richtung der Ausladung kann der Kranführer gut umgehen: Unter anderem deshalb, weil die Verformung in dieser Richtung durch Winkelmesser am Teleskopausleger erfasst und bei der Berechnung der Nennausladung in der LICCON berücksichtigt wird. Die Verformung in seitlicher Richtung zur Auslegerlängsachse, die insbesondere bei sehr langen Auslegern in steiler Stellung sehr präsent ist, wird vom Kranführer nicht gern gesehen, kann sie doch subjektiv ein Gefühl vermitteln, dass der Kran nicht sicher ist. Auch diese Verformung ist im Grundsatz nicht vermeidbar und dem Leichtbau sowie den eingesetzten höchstfesten Stählen geschuldet.

Joachim Henkel - Leiter der Abteilung Statik
Joachim Henkel - Leiter der Abteilung Statik

Größere Längen sorgen für stärkere Krümmungen

In den letzten Jahren ist ein Trend zu immer längeren Teleskopauslegern zu beobachten. Während vor ca. 25 Jahren bei Teleskopkranen in der 300 Tonnen-Tragkraftklasse eine maximale Teleskopauslegerlänge von 60 Metern genügte, dürfen es heute gerne 80 Meter oder sogar 90 Meter bei einem sechsachsigen Mobilkran sein. Mit den über die Jahre gewachsenen Auslegerlängen rückt ein Thema in den Fokus, das vor 25 Jahren zwar auch präsent war, jedoch kaum bemerkt wurde: Die zusätzliche Krümmung des Teleskopauslegers infolge Erwärmung durch Sonneneinstrahlung.

Gerade an kalten und zugleich klaren Wintertagen, wenn sich die der Sonne zugewandte Seite des Teleskopauslegers erwärmt, die gegenüberliegende abgeschattete Seite jedoch auf der niedrigen Umgebungstemperatur beharrt, zeigt sich dieser Effekt durch eine deutliche Vergrößerung der seitlichen Krümmung des Teleskopauslegers. Insbesondere in steiler Auslegerstellung wird die initiale seitliche Krümmung infolge einseitiger Erwärmung durch die Hublast noch überproportional verstärkt.

Die Größe der seitlichen Verformung des Teleskopauslegers infolge Erwärmung wird maßgeblich durch drei Faktoren bestimmt:

  • Temperaturdifferenz zwischen linker und rechter Seite des Teleskopauslegers: Je höher der Temperaturunterschied, desto größer die seitliche Verformung.
  • Ausfahrlänge des Teleskopauslegers: Je länger der Ausleger, desto größer die seitliche Verformung.
  • Querschnittsbreite der einzelnen Teleskopauslegerteile: Je schmaler der Ausleger, desto größer die seitliche Verformung.

Überträgt man diese Annahmen auf einen konkreten Teleskopausleger und berücksichtigt, dass sich dieser durch die einseitige Ausdehnung zusätzlich kreisförmig krümmt, wird die Formel zur Berechnung der Verformung infolge Wärmeausdehnung noch etwas komplexer. Beim LTM 1230-5.1 kommt man so beispielsweise bei einer maximalen Teleskopauslegerlänge von 75 Metern auf eine seitliche Verformung des Auslegerkopfes von 0,66 Metern bei einer Temperaturdifferenz von 20 Grad zwischen linker und rechter Seite des Teleskopauslegers allein durch die Wärmeausdehnung des Stahls. Wird der auf 75 Meter ausgefahrene Teleskopausleger in steilstmöglicher Auslegerstellung zusätzlich durch sein Eigengewicht und durch die in dieser Stellung maximale Traglast von 11,4 Tonnen belastet, kann sich die seitliche Verformung auf bis zu 2,8 Meter vergrößern.

Umfangreiche Messungen bei Liebherr haben ergeben, dass eine Temperaturdifferenz von 20 Grad zwischen linker und rechter Seite des Teleskopauslegers mit guter Näherung einen Grenzwert darstellt. Die daraus resultierende seitliche Verformung des Auslegers ist in der statischen Berechnung des Krans berücksichtigt. Somit kann der Kran bis zu dieser Temperaturdifferenz sicher innerhalb der gültigen Traglasttabelle betrieben werden. Nichtsdestotrotz kann die seitliche Verformung des Teleskopauslegers manchmal stören. Dem kann der Kranführer entgegensteuern, indem er den Oberwagen um 180° dreht, um die vorher abgeschattete Seite des Teleskopauslegers zu erwärmen. Auch ein Wechsel zu einer höheren Einscherung vermindert die Kraft im rückziehenden Anteil des Hubseils vom Rollenkopf zur Winde und damit die seitliche Verformung des Auslegers unter Last.

Dieser Artikel erschien im UpLoad Magazin 01 | 2024.

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