Firmengruppe

8 Minuten

Der Seilbagger, der Liebherr veränderte

1979 war er umstritten beim Schiffskranbauer Liebherr in Nenzing – der erste Liebherr-Seilbagger. Doch er sollte den Grundstein für die Baumaschinenproduktion am Standort legen. Nach vierzig Jahren im Einsatz ist der HS 870 zurückgekehrt.

Die Heimkehr des HS 870

Dass er diese Maschine eines Tages wiedersehen würde, hätte Manfred Brandl nie geglaubt. Dabei verbindet die beiden eine Geschichte, die Liebherr veränderte. Denn das Liebherr-Werk Nenzing (Österreich), das Manfred Brandl als Produktionsmitarbeiter betrat und nach vier Jahrzehnten als Geschäftsführer verließ, hätte sich um ein Haar völlig anders entwickelt und würde mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit noch heute Schiffskrane bauen. Wäre da nicht dieser Hydroseilbagger gewesen, der vierzig Jahre nach seinem Bau in einer Kiesgrube bei Bonn (Deutschland) rostig aber standhaft Tag für Tag Hebearbeiten erledigte. 2014 entdeckte man ihn. Der damalige Verkaufsleiter für Seilbagger und Raupenkrane für die Region Deutschland inspizierte ihn persönlich und berichtete seinen Kollegen in Nenzing das Unglaubliche: Er hatte den Urvater der Nenzinger Baumaschinenproduktion vor sich – den Prototypen des Seilbaggers HS 870 mit der Seriennummer 181001. Für Manfred Brandl sollte dieses Wiedersehen ein unvergessliches werden.

Der Urvater braucht mehr als nur neuen Lack

In seinen 35 Jahren in der Baumaschinenproduktion stand Jürgen Grass, Leiter Montage, bereits vor so mancher Herausforderung. Aber kaum eine war so besonders wie diese. An die Heimkehr des Seilbaggers HS 870 wird er sich wohl immer erinnern. Das war im Februar 2018: „Ich sehe ihn noch vor mir. Sein Zustand war den Umständen entsprechend gut. Der Motor und die Hydraulik funktionierten immer noch einwandfrei. Aber der Zahn der Zeit hat natürlich auch an unserem ersten Seilbagger seine Spuren hinterlassen. In den 40 Jahren, in denen er im Einsatz war, wurde ja auch nicht gerade zimperlich mit der Maschine umgegangen.“ Eines war klar: Wenn man diesen Teil Liebherr-Geschichte retten wollte, brauchte es mehr als nur einen neuen Anstrich.

Doch wie restauriert man eine Maschine, die ein ganzes Zeitalter begründet hat? „Da wir bei uns in Nenzing nur auf den Neubau von Maschinen spezialisiert sind, musste immer wieder entschieden werden, wie tief wir in die Restauration gehen. Der Charakter sollte ja erhalten bleiben. Es war ganz schön schwer für uns, den Seilbagger-Oldtimer nicht so perfekt wie eine neue Maschine aussehen zu lassen.“

Erfindergeist und Teamarbeit

Ein Team aus Monteuren, Schlossern, Ingenieuren und Lehrlingen machte sich ans Werk. Jung und Alt, neue und erfahrene Mitarbeitende halfen und legten Hand an. Der Unterwagen war in schlechtem Zustand und nahm viel Zeit in Anspruch, der gesamte Fahrantrieb musste komplett restauriert werden. Die Stahlverkleidung hatte erheblich unter den vielen Jahren im Einsatz gelitten und wurde von Lehrlingen komplett neu gebaut. Ventile wurden erneuert, Hydraulikschläuche ersetzt und alte Pumpen und Motoren in ihre Einzelteile zerlegt, gereinigt und neu montiert. Neben originalen Ersatzteilen fand zuletzt sogar Hightech aus dem 21. Jahrhundert ihren Weg in den HS 870: Für die Scheinwerferabdeckungen waren auch nach langem Suchen keine Ersatzteile mehr zu finden, „diese haben wir dann im 3D-Drucker originalgetreu hergestellt,“ sagt Jürgen Grass.

Jürgen Grass ist stolz auf seine Mitarbeitenden. Für ihn ist der restaurierte HS 870 ein Beispiel dafür, was Erfindergeist und Teamarbeit erreichen können. „Wir haben hier viele sehr gute und erfahrene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei uns. Der eine oder andere war vor 40 Jahren sogar noch selber bei der Fertigung des HS 870 mit dabei.“ Über 700 Stunden Arbeit haben sie am Ende in die Restaurierung gesteckt, neben ihrer täglichen Arbeit in der Produktion. Eine Meisterleistung, findet Jürgen Grass, bei der alle Beteiligten die Geschichte hautnah erfahren konnten. „Darum war es uns bei der Restauration auch sehr wichtig, unsere Lehrlinge miteinzubeziehen. Vor allem für diese jungen Mitarbeiter war das alles sehr spannend. Sie konnten erleben, wie unsere HS-Baureihe einst angefangen hat. Heute sind unsere Seilbagger alle digital, 1980 war alles noch analog.“

Wie kam Liebherr nach Nenzing?

Im Liebherr-Werk Ehingen (Deutschland) wurde Anfang der 1970er Jahre der Platz für den Bau von maritimen Kranen zu eng. Firmengründer Hans Liebherr machte sich auf die Suche nach einem neuen Standort. Er wusste, wenn zu viele Produkte an einem zu kleinen Standort gebaut werden, bleibt kein Raum mehr für Weiterentwicklung. Im Dreiländereck Deutschland-Österreich-Schweiz fand sich nach einiger Suche der passende Ort. Das Liebherr-Werk Nenzing wurde 1976 gegründet. 1977, im Jahr, in dem der erste Star-Wars-Film in die Kinos kam, startete die Produktion. Die Belegschaft zählte weniger als 100 Menschen und die waren stolz darauf, in den Alpen die Schiffs- und Offshore-Krane der Firmengruppe zu bauen.

Neuland in den Alpen

In den analogen Jahren 1979 und 1980 ahnten weder Manfred Brandl noch seine Kollegen, dass ihre Arbeit für immer als Wendepunkt in die Geschichte von Liebherr eingehen würde. Alles begann damit, dass der deutsche Baumaschinenhersteller Menck in Konkurs ging. Zur gleichen Zeit traten verschiedene Bauunternehmer an Hans Liebherr junior mit der Bitte heran zu prüfen, ob sein Unternehmen nicht auch Seilbagger bauen könnte. Der Sohn des Firmengründers kaufte die Konstruktionspläne des insolventen Herstellers und nach reiflicher Überlegung fiel die Entscheidung, einen Seilbagger in Nenzing zu bauen. Und Manfred Brandl wurde Teil der Gruppe, die den HS 870 baute. Er erinnert sich, dass der Prototyp zu Beginn nicht bei allen beliebt war. „Wir waren eine Schiffskranfabrik und hatten mit Baumaschinen wenig zu tun. Der Seilbagger war ein komplett anderes Produkt und hat gar nicht richtig ins Produktionsprogramm gepasst. Da haben hinter vorgehaltener Hand so einige gemurrt.“

Allen Gegenstimmen zum Trotz, ein Seilbagger sollte es werden, und zwar nicht nur eine Menck-Maschine unter neuem Namen. Nein, der erste Liebherr-Seilbagger, sollte einen diesel-hydraulischen Antrieb und eine elektronische Steuerung haben. Eine Weltneuheit, die auf der Bauma 1980 präsentiert werden sollte. Allerdings blieben nur 18 Monate Zeit. „Da ging es erstmal drunter und drüber“, sagt Manfred Brandl. „Wir wussten ja nicht einmal, wie ein Seilbagger funktioniert und wir mussten teilweise komplett neue Fertigungsabläufe definieren.“ Ausgerüstet mit den Konstruktionszeichnungen des Menck-Modells M 750 machten sich die Konstrukteure ans Reißbrett und entwarfen eine ihnen unbekannte Maschine mit neuartiger Hydraulik und neuem Antrieb. „Wir Maschinenbauer haben in der Montage dann ziemlich bald die Baupläne bekommen und haben losgelegt. Erst beim Bau ist aufgefallen, dass die Konstruktionszeichnungen von Menck unvollständig waren. Da gab es einiges, das hakte.“ Sie machten sich als Gruppe daran, die Fehler zu finden – nicht unähnlich der heutigen agilen Arbeitsweise – und gemeinsam fanden sie Lösungen für alle Probleme. „Das Schiffskranbauen ist ein Projektgeschäft. Da kann man sich blind auf den anderen verlassen. Und nur so haben wir es auch geschafft, den HS 870 in Höchstgeschwindigkeit zu bauen.“ Sogar an den Wochenenden arbeiteten sie an ihrem Seilbagger – als eingeschworenes Team.

Die verflixte Bandbremse

Wenn Manfred Brandl heute an diese Zeit denkt, dann erinnert er sich gerne an die Montage, die Verkleidungsfertigung und die Tests am Prüfstand. Und an ein ganz besonderes Bauteil: an diese verflixte Bandbremse! Ohne Bandbremse, keine Seilwinde, kein Seil und schon gar kein funktionierender Seilbagger. „Ich hätte mir nie gedacht, dass uns eine kleine unscheinbare Baugruppe beinahe zur Verzweiflung bringen kann. So einfach sie aussah, so komplex war die Herstellung.“ Jedes Mal, wenn sie glaubten, jetzt die Lösung für die Bremse gefunden zu haben, entstand ein neues Problem. Bei den einen Versionen wurde das Material beim Bremsen heiß, bei den anderen brach schlicht das Metall und bei den nächsten fielen die Nieten heraus. Nichts funktionierte „Wir haben davon geträumt. Aber bis zur Bauma hatten wir den Trick heraus. Bei uns herrschte der Grundsatz: Geht nicht, gibt’s nicht“.

Der Beginn einer neuen Ära

Auf den HS 870 folgte auf der Bauma 1983 bereits der HS 840 und anschließend eine ganze Generation von Baumaschinen Made in Austria. Anfang der 2000er Jahre wurde der Liebherr-Standort in Rostock eröffnet, an dem heute die maritimen Krane der Firmengruppe gebaut werden. Und das Liebherr-Werk Nenzing wurde zum renommierten Baumaschinenhersteller. Seine Maschinen sind heute auf Baustellen in aller Welt im Einsatz, darunter auch die Seilbagger der HS-Serie. Der neueste Streich der Österreicher ist die Unplugged-Serie, batteriebetriebene Raupenkrane und Spezialtiefbaumaschinen, die Branchentrends setzen.

Im April 1980 war die gesamte Gruppe, die den ersten Liebherr-Hydroseilbagger geschaffen hatte, auf die Bauma nach München (Deutschland) eingeladen. An den Prototyp waren nicht nur hohe Anforderungen hinsichtlich Verarbeitungsqualität und Funktionalität gestellt worden. Auch optisch musste er ansprechend sein. „Wir haben die Maschine geputzt und gebohnert, sodass sie am Ende wie eine geschminkte Braut am Liebherr-Stand der Welt präsentiert wurde.“ Mit stolz geschwellter Brust stand die Gruppe aus Nenzing um ihre Maschine herum, beobachtete das Treiben, führte Gespräche und konnte fast nicht glauben, wie viel Lob sie bekam. „Auf der Bauma, wo alle namhaften Baumaschinenersteller der Welt ihre Produkte präsentieren, weckte unser HS 870 großes Interesse bei den fachkundigen Messebesuchern. Er war eine Weltsensation.“

Anschließend wurde der Prototyp direkt an seinen neuen Besitzer Bilfinger Berger übergeben und begann seinen aktiven Einsatz auf unterschiedlichsten Baustellen und bei verschiedensten Besitzern in ganz Europa. Bis man ihn in Bonn wiederentdeckte.

Zwei „Liebherr-Urgesteine“ gehen in Pension

Am Tag seines Abschieds nach über vier Jahrzehnten bei Liebherr staunte der scheidende Geschäftsführer Manfred Brandl nicht schlecht, als ihn die Belegschaft mit seinem Namensvetter Manfred #1 bekanntmachte. „Zeitgleich mit meiner Pensionierung nach 42 Liebherr-Jahren wurden die Restaurationsarbeiten am HS 870 fertig. Sozusagen als Abschiedsgeschenk ziert nun mein Vorname diese tolle Maschine. Dafür bin ich sehr dankbar und es erfüllt mich mit Stolz, Teil dieser Liebherr-Geschichte zu sein.“

Der HS 870 bleibt in Nenzing und kann von Gästen und Mitarbeitenden besucht und bestaunt werden. Bei Kundentagen und Veranstaltungen soll es künftig auch Vorführungen des ersten Liebherr-Seilbaggers geben. Was würde der Prototyp, der die Baumaschinenproduktion in Nenzing begründet hat, wohl zu all dem sagen? Da sind sich Manfred Brandl und Jürgen Grass einig: „Dass er sein Dasein dem sprichwörtlichen „Liebherr-Geist“ zu verdanken hat und dass er froh ist wieder in Nenzing gelandet zu sein, um hier seinen Lebensabend zu verbringen.“

Der HS 870 und der HS 8300: der erste und der größte Liebherr-Seilbagger im Vergleich

Das könnte Sie auch interessieren