7 Minuten | Magazin 01/2019
Technischer Fortschritt und unternehmerische Kontinuität als Erfolgsrezept
In 50 Jahren Unternehmensgeschichte gab es bei Liebherr in Ehingen nur zwei Technische Geschäftsführer. Hier zeigt sich unternehmerische Kontinuität – ein Merkmal, auf das Liebherr seit jeher großen Wert legt. Es war uns eine besondere Ehre, mit Rudolf Becker, der von 1971 bis 1994 die Verantwortung für die Konstruktion trug, und seinem Nachfolger Dr. Ulrich Hamme über die Entwicklung der Liebherr-Mobil- und Raupenkrane zu sprechen.
50 Jahre, zwei Technische Geschäftsführer: Ein Rück- und Ausblick
Herr Becker, welche Erfahrung in der Mobilkranbranche brachten Sie mit, als Sie 1971 bei Liebherr in Ehingen angefangen haben?
Rudolf Becker: Ich kam von Demag aus Düsseldorf, wo ich sieben Jahre als Hauptabteilungsleiter und Prokurist für die Produktentwicklung verantwortlich war. Davor hatte ich bei Gottwald acht Jahre als Gruppenleiter in der Konstruktion gearbeitet. Bei beiden Unternehmen begannen ab etwa 1965 die Entwicklung und der Bau von Kranen mit Straßenzulassungen. Bei Demag wurden auch Konstruktionen von Raupenkranen bis 80 Tonnen Tragkraft in Angriff genommen. Wenn mich nicht Dr. Hans Liebherr persönlich eingestellt hätte, wäre ich nicht zu Liebherr gekommen.
Wie beurteilten Sie den damaligen Stand der Technik der Liebherr-Mobilkrane?
Rudolf Becker: In Ehingen wurden zunächst Autokrane mit Teleskop- und Gittermastauslegern gebaut, die davor bereits bei Liebherr in Biberach gefertigt worden waren. Der Stand der Technik war damals allerdings noch geprägt von mangelnder Erfahrung und Marktkenntnis. Zudem fehlte die Akzeptanz im Markt. Es gab aber Mut und Willenskraft, den Anschluss mit der persönlichen Unterstützung von Herrn Dr. Hans Liebherr möglichst schnell zu erreichen. Durch den Fleiß und die Einsatzbereitschaft der schwäbischen Mitarbeiter stellte sich der Erfolg bald ein. Ein Paradebeispiel: Schon 1971 wurde der Großauftrag aus Russland über 50 Teleskopkrane, die bis -40°C betriebsbereit sein mussten, ausgeführt.
Wir haben mit den Kunden geredet, auch mit Kranfahrern. Woher sollten wir sonst die Informationen holen?
Was waren damals primäre Ziele in der Produktentwicklung? Wie hat man diese erreicht?
Rudolf Becker: Es war schnell klar, dass wir Vorteile gegenüber dem Wettbewerb schaffen mussten. Ich hatte damals häufig einen ausführlichen Gedankenaustausch mit meinem Geschäftsführer-Kollegen Friedrich Bär, der für den Vertrieb verantwortlich war: Was müssen wir machen, nicht nur um den Anschluss zu gewinnen, sondern um einen Vorsprung zu bekommen? Wir führten diesen Dialog auch mit erfahrenen Kunden, den Kranbetreibern, auch mit Kranfahrern. So erhielten wir nützliche Anregungen.
Wir entschieden uns für folgende Zielsetzungen, die wir auch entschlossen umsetzten: Die Autokrane hatten zu dieser Zeit keine Autobahnfahrgenehmigungen, da diese erst über 60 km/h erteilt wurde. Da die Hinterachsen wegen der Kranstabilität noch ungefedert waren, war die Geschwindigkeit auf 60 km/h begrenzt. Deshalb bauten wir schon sehr früh Federungen mit Schwingenlagerung ein, wodurch unsere Krane Autobahn-Zulassungen von 80 km/h erhielten. Das war ein großer Vorsprung gegenüber dem Wettbewerb!
Auf den Baustellen wurde immer mehr Geländegängigkeit gefordert. Die Krane der LTM-Baureihe erhielten deshalb große Räder und Reifen mit griffigem Profil. Durch die hydropneumatische Federung wurden wesentliche Verbesserungen erzielt. Eine sehr feinfühlige Steuerung für die Antriebe der Krane, insbesondere für Hub- und Drehbewegungen, konnte mit der elektromagnetisch-hydrostatischen Steuerung realisiert werden.
Liebherr wurde dann Marktführer. Was waren Ihrer Meinung nach die technischen Meilensteine, die uns als Kranhersteller vorangebracht haben?
Rudolf Becker: Im Stahlbau wurde der Einsatz hochfester Feinkornstähle mit Streckgrenzen bis zu 960 N / mm² notwendig, um eine bedeutende Gewichtsreduzierung verwirklichen zu können. Doch diese Werkstoffe hatten zunächst keine Zulassung. Deshalb übernahm ich als Obmann der „Normabteilung Fahrzeugkrane beim VDMA“ zusammen mit der Technischen Hochschule Darmstadt die Aufgabe, Kerbschlagproben an geschweißten Probestählen durchzuführen, um durch diese Versuchsergebnisse die normative Zulassung zu erhalten.
Ein weiterer Meilenstein war die Entwicklung der patentierten ovalen Querschnittsform der Teleskopauslegerrohre, mit denen es möglich war, die zulässigen Spannungen auszunutzen, ohne die Beulgrenzen zu überschreiten. Da Beulsteifen nun nicht mehr erforderlich waren, konnten die inneren Teleskopteile breiter gebaut werden. Der größere Auslegerquerschnitt steigerte die Tragkraft und zudem konnten wir längere Teleskopausleger bauen.
Bei Gittermastkranen auf Raupen oder Rädern wurde sehr früh der Gegenausleger, das Derrick-System mit Schwebeballast, eingeführt. Das führte zu deutlichen Traglaststeigerungen. Später gelang dies auch bei Teleskopkranen durch Abspannungen des Auslegers.
Lief da immer alles wie geplant?
Rudolf Becker: Natürlich nicht. Im Nachhinein weiß man es immer besser. Ich kann mich da an einen LG 1180 für die Verladung von Transformatoren in einem Hafen im Iran erinnern. Mit einem Derrick-System und 250 Tonnen Schwebeballast konnte er 350 Tonnen heben. Der Derrick war hinten an der Drehbühne befestigt. Als wir dann die ersten Testhübe machten, gab die Drehbühne stark nach. Es blieb nichts anderes übrig, als die Drehbühne zu verstärken.
Herr Dr. Hamme, Sie kamen Mitte 1994 zu Liebherr nach Ehingen als Technischer Geschäftsführer und übernahmen nach nur drei Monaten Übergangszeit die Verantwortung für den Bereich „Konstruktion und Entwicklung“. Ihr beruflicher Hintergrund waren Stahlbau und Statik mit Erfahrung als Leitender Ingenieur im Anlagenbau. Wie haben Sie damals unsere Technik und unsere Position im Wettbewerb eingeschätzt?
Dr. Ulrich Hamme: Ich habe hier ein technisch solides Fundament und engagierte, motivierte Mitarbeiter vorgefunden. Wir waren mitten im Umbruch zum computergestützten Konstruieren (CAD), erst 2-D, später dann 3-dimensional. Es war aber auch eine schwierige Zeit, weil der Mobilkranmarkt eingebrochen war. Es wurde sogar von Personalabbau gesprochen, zu dem es dann aber glücklicherweise nicht kam. Es ging in Ehingen schnell wieder aufwärts. Unser Marktanteil bei AT-Kranen lag damals bei etwa 30 Prozent. Unsere Position im Markt war also noch ausbaubar. Das haben wir dann in den Folgejahren bis heute Schritt für Schritt geschafft.
Was war für Sie dann der Fokus in der Produktentwicklung?
Dr. Ulrich Hamme: Wir haben auch früher schon tolle Krane gebaut, aber manchmal in nur sehr kleinen Stückzahlen. Daher mussten wir unseren Fokus auf Serienfertigung richten. Das erforderte mehr Standardisierung und die klare Strukturierung unserer Produktpalette. Die Leistungsfähigkeit von Produkten zu erhöhen, ist natürlich immer ein Ziel in der Konstruktion, aber es ging auch um höhere Flexibilität – sowohl beim Heben von Lasten wie auch beim Fahren auf der Straße. Da der Exportanteil immer weiter stieg, erkannten wir den Bedarf für weltweit universell einsetzbare Krane. Das betrifft nahezu alle Traglastklassen und dieser Trend setzt sich bis heute fort. Und noch etwas ganz Wichtiges: Sicherheit stand und steht für uns über allem!
Mit hoher technischer Dynamik und unternehmerischer Kontinuität können wir die Herausforderungen stemmen.
Was war Ihnen bei der Entwicklung sonst noch wichtig?
Dr. Ulrich Hamme: Wie Rudolf Becker schon berichtete, war die Kundennähe ein wichtiger Schlüssel für unseren Erfolg damals. Das ist heute noch genauso. Die enge Kommunikation mit den Kunden und Märkten durch Vertrieb und Produktmanagement – und auch direkt durch die Konstruktion – ist essentiell.
Wichtig ist auch, dass der Liebherr-Kran ein guter und sicherer Arbeitsplatz für den Kranführer ist. Er soll sich wohl fühlen. Auch wenn es jetzt wie ein Marketingtext klingt: Hohe Qualität, Verfügbarkeit und Wertbeständigkeit waren mir schon immer wichtig. Und der Komplex Umweltverträglichkeit muss in die Konstruktion, die Produktion und das ganze Kranleben integriert werden.
Wo sehen Sie die wichtigsten technischen Meilensteine?
Dr. Ulrich Hamme: Rudolf Becker hat schon die Entwicklung des ovalen Auslegerprofils genannt. Gleichzeitig ermöglichte das Ein-Zylinder-Taktsystem TELEMATIK zunehmend längere, mehrteilige Ausleger. Die Kombination von beiden Innovationen in den Teleskopauslegern ab 1996 brachte enorme Traglastgewinne. 1997 führten wir beim LTM 1030 / 2 erstmals die Daten-Bus-Technologie ein. Dies führte für die Kransteuerung, vom Dieselmotor bis zum Hubendschalter, zu völlig neuen Möglichkeiten durch die Digitalisierung. Auch die Diagnosemöglichkeiten wurden erweitert.
Meilensteine waren natürlich Krantypen, die neue Rekorde aufstellten. Erstmals ein 100 Meter Teleskopausleger beim LTM 11200-9.1. Mit dem LR 13000 bauen wir den stärksten Raupenkran konventioneller Bauart. Seine Hakenhöhe ist mit 245 Metern ein Weltrekord.
Wichtiger als Rekorde ist aber das, was unsere Kunden bei der tagtäglichen Arbeit unterstützt. Wenn wir sie nach Meilensteinen fragen würden, wäre VarioBase® einer der meistgenannten Begriffe. Da bin ich mir sicher, denn das ist wahrlich eine bahnbrechende Entwicklung: mehr Sicherheit, größere Flexibilität im Einsatz und auch noch mehr Leistung.
Als entscheidend für unseren Erfolg sehe ich auch den kontinuierlichen Ausbau unserer Produktpalette zum Komplettanbieter. Raupenkrane wurden unser zweites Standbein und seit Kurzem sind wir auch wieder in den Kreis der Geländekran-Hersteller zurückgekehrt.
Anmerkung der Redaktion: Es war sehr erfrischend, in entspannter, privater Atmosphäre den Humor und klaren Verstand der inzwischen 90 Jahre alten Kran-Koryphäe Rudolf Becker zu erleben. Und extrem lecker: das Zopfbrot mit Butter und Marmelade seiner Frau Christel!
Herr Becker, haben Sie die Entwicklungen in der Mobil- und Raupenkran-Branche in Ihrem Ruhestand weiterverfolgt?
Rudolf Becker: Ja, das lässt einen nicht los. Des Öfteren bin ich um das Werksgelände gefahren und habe mir die neuen Krantypen angeschaut. Das ist alles sehr beeindruckend.
Herr Dr. Hamme, welche Herausforderungen sehen Sie aktuell in der Branche?
Dr. Ulrich Hamme: Die Welt wird heterogener, die Anforderungen an Fahrzeugkrane und das „Drumherum“ driften auseinander. Dies weiterhin unter einen Hut zu bringen, ist eine Aufgabe für die Zukunft. Automatisierung, Digitalisierung, Vernetzung, Autonomie, Elektrifizierung, alternative Antriebe, Klimawandel, Umweltschutz – diese Themen sind moderne Treiber und sind natürlich wichtig, auch bei uns.
Wir müssen aber das Wesentliche vom Unwesentlichen trennen, immer die Fragen nach Sinnhaftigkeit und Machbarkeit stellen, damit wir uns nicht verzetteln. Die Devise ist, das Richtige zum geeigneten Zeitpunkt tun! Natürlich: Bei all diesen Themen müssen wir am Ball bleiben, um richtige Weichenstellungen vornehmen zu können.
Mir ist es wichtig, die Basisfunktionen eines Fahrzeugkrans nicht zu vergessen: Mobilität und Hubleistung. So müssen wir eben „das eine tun und das andere nicht lassen“. Mit hoher technischer Dynamik und unternehmerischer Kontinuität können wir, wie schon in der Vergangenheit, auch zukünftig die Herausforderungen stemmen.
Dieser Artikel erschien im UpLoad Magazin 01 | 2019.