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In eisiger Höhe
Vier Turmdrehkrane waren beim Bau des höchsten Gebäudes Europas, dem Lakhta Tower, im Dauereinsatz. Ein Liebherr-Servicetechniker stellte in schwindelerregender Höhe sicher, dass auch bei extremen Wetterbedingungen alles reibungslos lief. Ein Rückblick.
Service als Hochseilakt
430 Meter über dem Abgrund. Gesichert nur durch ein Klettergeschirr und einen Karabiner. Umhüllt von dichtem Nebel. Eisiger Wind, der durch die Metallstäbe des Turmdrehkrans pfeift. Ivan Dikun liegt bäuchlings auf einem schmalen Metallsteg, um einen Sensor des Turmdrehkrans zu kontrollieren. „Hier oben sind der permanente Wind und die kalten Temperaturen im Winter die größten Herausforderungen für uns“, erläutert der Servicetechniker, der auch unter Zeitdruck einen kühlen Kopf bewahren muss. Heute steht der Kran, auf dem er sich befindet, für eine geplante Routinewartung still. Im Ernstfall müssen Servicearbeiten schnellstmöglich durchgeführt werden, um den Baufortschritt nicht zu gefährden. Denn erst wenn die Wartung des Turmdrehkrans erledigt ist, kann die Arbeit am neuen Wahrzeichens St. Petersburgs fortgesetzt werden.
Der Lakhta Tower ist heute mit 462 Metern das höchste Gebäude Europas. Das Hochhaus befindet sich rund zehn Kilometer außerhalb der Innenstadt direkt am Finnischen Meerbusen. Das Bauunternehmen Renaissance Construction setzte beim Bau des Wolkenkraters drei Turmdrehkrane des Typs 710 HC-L 32/64 Litronic sowie einen 357 HC-L 12/24 Litronic ein. Durch eine Hydraulikvorrichtung kletterten die Krane an der Außenfassade und im Innern des Turms empor. Dem Wolkenkratzer waren sie dabei immer einen Schritt voraus.
Unsere eigene Sicherheit und die der anderen Arbeiter auf der Baustelle müssen wir immer im Blick haben – egal wie hoch wir uns befinden
Unter extremen Bedingungen
Dafür sorgte Servicetechniker Ivan Dikun. In über 400 Metern Höhe sind selbst Standardaufgaben, wie die Überprüfung von Endschaltern und Sensoren, ein Hochseilakt. Etwa wenn der Servicetechniker den Ausleger des Turmdrehkrans entlanggeht und dabei den Karabiner alle paar Meter neu in das Führungsseil einhaken muss, das ihn im Notfall vor einem Sturz bewahrt. „Unsere eigene Sicherheit und die der anderen Arbeiter auf der Baustelle müssen wir immer im Blick haben – egal wie hoch wir uns befinden“, erläutert Dikun. Ein nach unten fallendes Werkzeug könnte ebenso fatale Folgen haben wie ein Sturz.
Die eigentliche Herausforderung am Lakhta Tower ist aber nicht die rekordverdächtige Höhe, sondern das Wetter. „Wir befinden uns direkt am Meer und nur rund 1.000 Kilometer vom Polarkreis entfernt. Es kann hier bis zu minus 32 Grad kalt werden und es herrschen Windstärken von über 130 km/h“, so Dikun. Da komme es schlicht auf die richtige Arbeitskleidung an, um dem Wetter zu trotzen. Die Turmdrehkrane sind für die Arbeit unter solchen extremen Bedingungen ausgelegt. Wartungsarbeiten können aus Sicherheitsgründen hingegen nur bei Windstärken bis maximal 72 Kilometern pro Stunde durchgeführt werden. Deshalb müssen Servicetechniker flexibel auf die Wetterbedingungen vor Ort reagieren. Eine ruhige Hand ist dabei neben Schwindelfreiheit Grundvoraussetzung. „Man braucht schon ein gewisses Talent, um bei einem Ölwechsel mit Wind nichts zu verschütten“, schmunzelt der Techniker. Neben solchen routinemäßigen Wartungen unterstützen er und seine Kollegen des Tower Crane Customer Service Händler und Kunden auf Wunsch auch bei anspruchsvolleren Installationen oder bei der Demontage von Turmdrehkranen.
Die größte Herausforderung war die extreme Gebäudehöhe. Mit 462 Metern benötigen wir sehr leistungsstarke Turmdrehkrane.
87 Stockwerke in Rekordzeit
Mit dem Bau des Lakhta Towers wurde im Jahr 2015 begonnen. Die Arbeiten am Äußeren des Hochhauses wurden in diesem Jahr fertiggestellt und der Innenausbau begann – nach nur drei Jahren Bauzeit. Ein sehr straffer Zeitplan für ein Projekt dieser Größe. Hinzu kommt, dass neben dem Hochhaus parallel ein Mehrzweckgebäude mit Büroräumen sowie Sport- und Freizeitanlagen erbaut wurde. Hier kamen sechs weitere Liebherr-Turmdrehkrane zum Einsatz.
„Eine besondere Anforderung war für uns deshalb die technische Unterstützung durch Liebherr in allen Phasen unseres Projektes“, sagt Rustam Doshchanov, Projektmanager bei Renaissance Construction. Das Bauunternehmen arbeitete bereits ein Jahr vor Baubeginn eng mit der Liebherr-eigenen Projektabteilung Tower Crane Solutions zusammen. Die Abteilung plant besonders anspruchsvolle Kraneinsätze. „Je früher wir eingebunden werden, desto besser können wir das Krankonzept individuell auf die Baustelle und unseren Kunden anpassen“, erläutert Benedikt Bärtle, Projektleiter auf Seiten der Tower Crane Solutions.
Im Rahmen der Planung spielten insbesondere die Höhe des Gebäudes und die extremen Wetterbedingungen eine wichtige Rolle. Um einen zügigen Baufortschritt des Lakhta Towers gewährleisten zu können, mussten besonders leistungsfähige Turmdrehkrane zum Einsatz kommen. Die Wahl fiel auf drei 710 HC-L 32/64 Litronic Turmdrehkrane, die maximale Traglasten von bis zu 64 Tonnen und Hubgeschwindigkeiten von bis zu 176 Metern pro Minute ermöglichen. Doch nicht nur die Höhe des Gebäudes ist anspruchsvoll – auch seine Form. Das Hochhaus erinnert an eine Gasflamme, die sich nach oben verjüngt. Die Konstruktion des Turms ist einzigartig und unterscheidet sich von Etage zu Etage. Eine Standardlösung kam deshalb nicht in Frage. Der Kletterablauf der Krane wurde individuell auf das Fassadenkonzept und den Baufortschritt des Gebäudes angepasst.
So ist jeder Bauabschnitt genau geplant. Darauf allein kommt es bei solchen Großprojekten aber nicht an. Denn nicht alles lasse sich planen. „Wir müssen kurzfristig auf die Begebenheiten auf der Baustelle reagieren und mögliche alternative Vorgehensweisen prüfen. Beispielsweise wenn Bauteile gehoben werden müssen, die schwerer sind als ursprünglich geplant“, sagt Bärtle.
Dabei arbeiten die Ingenieure aus Biberach eng mit Renaissance Construction und den Servicetechnikern vor Ort zusammen, um flexibel und zeitnah reagieren zu können. „Schnelle Reaktionszeiten sind für uns sehr wichtig, weil jede Verzögerung im Betrieb der Krane zu einer Verzögerung der Bauarbeiten geführt hätte“, ergänzt Doshchanov.
Ivan Dikun schließt nach rund zwei Stunden seine Wartungsarbeiten ab. „Dispatcher, bitte kommen. Die Überprüfung ist durchgeführt, der Kran kann wieder in Betrieb genommen werden“, spricht Dikun in sein knackendes Funkgerät und macht sich an den Abstieg. Während er die letzten Meter im Innern des Turmdrehkrans hinunterklettert, setzt dieser seine Arbeit am höchsten Gebäude Europas bereits wieder fort.